"Digitalisierung im Gesundheitswesen"

Sehr geehrte Patientinnen und Patienten,
liebe Eltern, (letztes Update: 14.07.2023)

als Ärztinnen und Ärzte der Familienpraxis Karlstein begrüßen wir ausdrücklich IT-Innovationen und zuverlässige technische Weiterentwicklungen, die dem Patienten nutzen, dem Gemeinwohl dienen oder unsere tägliche ärztliche Arbeit von Bürokratie entlasten.
Die vom Bundesgesundheitsministerium im Mai 2023 vorgelegte "Digitalisierungsstrategie" mit der darin vorgesehenen "elektronischen Patientenakte" (ePA) halten wir aber aus vielen Gründen für hochproblematisch.
Die Gesetzesvorhaben sollen eine zentrale und digitale Speicherung persönlichster und intimster Gesundheitsdaten der Patienten ohne deren ausdrückliche vorherige Zustimmung erwirken. Erstmals läge die Datenhoheit für sensible Gesundheitsdaten nicht mehr beim Patienten und einem ihm persönlich bekannten Ärztin/Arzt oder bei einer dem Patienten vertrauten Institution alleine, sondern auch bei einem anonymen Datenspeicher. Die Pläne der Bundesregierung stehen in Zusammenhang mit großangelegten Plänen der Europäischen Union, einen gemeinsamen, EU-weiten "Gesundheitsdatenraum" zu schaffen und die gesammelten Daten der Nutzung auch für kommerzielle Forschung zugänglich zu machen. Bei den vorgelegten weitreichenden Vorschlägen hätten Patient*innen kein Mitspracherecht bei der Nutzung und kommerziellen Verwertung ihrer Daten und würden noch nicht einmal darüber informiert, wer sie erhält. Solche Pläne missachten das Recht der Menschen auf Vertraulichkeit ihrer intimsten und privatesten Daten und stehen in massivem Widerspruch zu den Grundsätzen der ärztlichen Schweigepflicht.

Eine überstürzte Schnelldigitalisierung im Gesundheitswesen wäre nicht nur ein Kulturbruch im Vertrauensverhältnis zwischen Arzt und Patient, sondern auch mit erheblichen Risiken behaftet. Der Schutz und die Nutzung Ihrer Daten wäre in Zukunft abhängig von sich wandelnden politischen Interessen und veränderbaren gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie von komplexen und fehleranfälligen IT-Technologien. Zum jetzigen Zeitpunkt sind aus unserer Sicht weder die rechtlichen Rahmenbedingungen noch die erforderlichen IT-Technologien ausreichend stabil entwickelt und so zuverlässig sichergestellt, dass ein groß angelegtes Datenspeicherexperiment mit hochsensiblen Daten riskiert werden sollte.
Viele, fast täglich neue Beispiele von Datenpannen, Leaks und erfolgreicher Cyberkriminaität in In- und Ausland (vor kurzem betroffen war einer der größten IT-Dienstleister für die gesetzlichen Krankenkassen) mit teilweise katastrophalen Folgen für die Betroffenen erscheinen nicht ausreichend berücksichtigt. Eine kleine, unvollständige Übersicht über weitere, bereits eingetretene Datenpannen im Bereich des deutschen Gesundheitswesens gibt es z.B. hier. Experten warnen klar und unmissverständlich davor, dass bei der geplanten zentralen Speicherung eine sichere Anonymisierung/Pseudonymisierung der komplexen Patientendaten angreifbar wäre und mit Hilfe von „künstlicher Intelligenz“ „rückgerechnet“ werden könnte. Es wäre dann nicht mehr kontrollierbar, wo und wie in Zukunft diese Datenströme geschickt zusammengeführt würden. Ein hohes Interesse am Zugang zu solchen Daten haben jedenfalls Kostenträger wie z.B. Krankenkassen, Versicherungen und digital agierende Konzerne. Letztere haben, im Gegensatz zum einzelnen Patienten, auch die Expertise und die Mittel solche Daten gewinnbringend für ihre Eigeninteressen aufzubereiten und auszuwerten. Im schlimmsten Fall würde sich ein Wunsch der Digitalkonzerne erfüllen und der „gläserne Patient / Konsument / Mensch“ würde vom Alptraum zur Realität.
Bei einer zentralen Datenspeicherung im großen Stil ist es nach den bisherigen Erfahrungen daher nicht die Frage ob, sondern nur wann, wo und wie es zu Missbrauch von sensiblen Patientendaten kommen würde.
Die Idee, „Big Data“ sei generell für das Gemeinwohl oder für eine gute Forschung unentbehrlich, ist aber wissenschaftliche nicht hinreichend belegt und erscheint daher eher politisch und wirtschaftlich motiviert. Viele in der BMG-"Digitalisierungsstrategie" aufgelisteten Vorteile für den einzelnen Patienten, wie "E-Rezept", "Telemedizin", "DMP-Programme", "Arzneimittelsicherheit", „schnelle Arztkommunikation“ usw. lassen sich auch ohne ePA / Zentralisierung viel datensparsamer umsetzen. Solche Projekte bestehen bereits und könnten bedarfsgerecht und ohne zeitlichen Aktionismus sinnvoll und stabil weiterentwickelt werden.
Eine voreilig umgesetzte "Digitalisierungsstrategie" wird demnach aus unserer Sicht kein Garant für ein menschlicheres oder besseres Gesundheitssystem sein – sie wäre jedenfalls mit sehr hohen Kosten verbunden und ein weiterer Schritt hin zu Kommerzialisierung und Ökonomisierung.

Unsere wichtigsten Forderungen an den Gesetzgeber zur "Digitalisierung im Gesundheitswesen" lassen sich in den folgenden fünf Punkten zusammenfassen:

Qualität vor Quantität – Sicherheit vor Schnelligkeit
Die Weiterentwicklung der Digitalisierung im Gesundheitswesen muss in allen gesellschaftlichen, rechtlichen, technischen und medizinisch-wissenschaftlichen Belangen zuallererst nach Qualitäts- und Sicherheitskriterien erfolgen.
Nachhaltige und sichere Rahmenbedingungen müssen vorher realisiert und dies nachvollziehbar belegt und transparent gemacht werden. Erst danach kann eine Nutzung von Gesundheitsdaten zu Forschungszwecken überhaupt in Betracht gezogen werden.

Keine zentrale Vorratsdatenspeicherung von Gesundheitsdaten
Jede zentrale Vorratsdatenspeicherung von Gesundheitsdaten ist eine zusätzliche, redundante Datenspeicherung zu den bereits vorhandenen dezentralen Datenspeicherlösungen auf Versorgungsebene. Sie schafft damit zwangsläufig neue, unnötige Sicherheitsrisiken und ist deshalb abzulehnen. Stattdessen wäre die Entwicklung qualitativer Schnittstellenlösungen mit den zugehörigen Sicherheitskonzepten sowie wissenschaftlich sinnvoll verwertbarer Datenstandards möglich. Berechtigte gemeinnützige Forschungsvorhaben könnten dann nach qualifizierter Einwilligung der Patient:innen Daten zu wissenschaftlichen Zwecken über neutrale Clearingstellen dezentral anfragen.

Verfügungsbefugnis über die eigenen Gesundheitsdaten
Patient:innen müssen die alleinige Verfügungsbefugnis über ihre vertraulichen Gesundheitsdaten haben und vorbehaltlos selbst über eine Sekundärnutzung entscheiden können. Alle „Opt out“ - Lösungen für Speicherung und Sekundär-Nutzung von individuellen Gesundheitsdaten spekulieren im Zusammenhang mit den oft sehr komplexen, schwer erschließbaren Sachverhalten mit der Gutgläubigkeit oder der Uninformiertheit vieler Patient:innen um möglichst schnell viele Daten zu gewinnen. Sie sind daher unethisch und passen nicht zu einer modernen Demokratie, die auf Aufklärung und Bildung der Bürger setzt. Jede gesetzliche Verpflichtung zur Patientendatenweitergabe ohne ausdrückliche Einwilligung der Betroffenen ist daher abzulehnen.

Qualifizierte Aufklärung und Einwilligung
Eine qualifizierte Patienten-Einwilligung zur Freigabe von Behandlungsdaten zu Forschungszwecken muss für jedes Forschungsvorhaben gesondert eingeholt werden. Zuvor muss über das jeweilige Forschungsvorhaben und die dazugehörigen Rahmenbedingungen und Risiken umfassend und für Laien verständlich informiert und aufgeklärt werden. Zu diesem Zweck sind verbraucherfreundliche Rating-Instrumente für alle Datenanfragen zu entwickeln.

Datenschaden-Entschädigungsgesetz
Der Staat muss, analog zum gesetzlich verankerten Entschädigungsanspruch bei Impfschäden, eine Entschädigungs-Garantie für alle materiellen, immateriellen und gesundheitlichen Schäden übernehmen, die Menschen und/ oder deren Nachkommen durch einen Datenschaden erleiden, soweit dieser durch öffentlich empfohlene, gesetzlich verordnete oder anderweitig staatlich veranlasste Speicherung, Verwendung und/oder Weitergabe von Gesundheitsdaten verursacht wurde.

Bitte setzen auch Sie sich für diese Ziele im eigenen Interesse und im Interesse der nachfolgenden Generationen ein !

Ähnlich wie in der Umweltpolitik werden die strukturellen Fehlentwicklungen, die wir heute im Umgang mit Daten und Datenverarbeitung zulassen, sich in großem Umfang erst viel später offenbaren und auswirken.
Und: Ähnlich wie im Umgang mit unserer Umwelt können solche Fehler auch irreversibler Natur sein.
Wägen Sie für sich und Ihre Familien daher stets sehr gut ab, ob kleine versprochene Vorteile es wert sind, Ihre persönlichsten Daten einer (zentralen) digitalen Speicherlösung anzuvertrauen.
Nutzen Sie alle Ihnen zur Verfügung stehenden Möglichkeiten, einer vorschnellen zentralen Speicherung und Kommerzialisierung Ihrer Gesundheitsdaten aktiv zu widersprechen.
Engagieren Sie sich für eine sichere, bürgerfreundliche Gesetzgebung auf nationaler wie auch auf EU-Ebene. Eine Möglichkeit ist z.B. die Unterstützung des Appells "Kein Zugriff auf Patientenakten für Big Tech" der Nichtregierungsorganisation "WEMOVE EUROPE".

Wir werden Sie auch weiterhin über die Hintergründe zu den Entwicklungen zur "Digitalisierung im Gesundheitswesen" informieren, damit Sie sich eine fundierte eigene Meinung bilden können.
Transparenz und ein lebendiger Austausch zu diesen aktuellen, uns alle in naher Zukunft betreffenden, tief in unser soziales Miteinander wirkenden gesellschaftlichen Entwicklungen erscheinen uns essentiell wichtig.

Gerne können Sie sich mit Ihren Fragen und Ihren eigenen Meinungen per E-Mail an uns wenden - wir freuen uns auf einen konstruktiven Dialog!

Ihre Familienpraxis

Dr. med. Vera Zimmer - Dr. med. Susann Überreiter - Dr. med. Alexander Miller - Th. Bergmann